Große Reden der Weltliteratur (kleines Schulprojekt)

Unsere Schule hat nächste Woche eine Projektwoche, in der jahrgangsübergreifend gearbeitet wird. Was lag da für mich als Deutsch- und Englischlehrer und als Theatermensch näher als ein Projekt anzubieten, das zumindest innerhalb der Geisteswissenschaften auch fächerübergreifend ist. Hier meine Ausschreibung, weiter unten die Reden, die ich den Schülerinnen und Schülern vorstellen möchte.
Ich freue mich nach langer Abstinenz auf diesem Blog nun wieder auf Austausch und Kommentare, bestimmt gibt es noch viele perfekte Reden, die hier Aufnahme finden sollten. Gerade im Bereich der griechischen und lateinischen Klassiker habe ich mit Sicherheit wunderbare Exemplare vergessen / übersehen / gar nicht erst gekannt.

Große Reden der Weltliteratur

Es hat sich immer wieder gezeigt, dass es einzelne Menschen gibt, die mit einer (oder ein paar wenigen) Reden die Geschichte der Menschheit maßgeblich beeinflussen. Sei es zu biblischen Zeiten auf dem Ölberg oder in unserer Zeit vor dem Lincoln Memorial in Washington, sei es vor dem römischen Senat oder vor Soldaten in Nürnberg…
Es macht also großen Sinn, sich mit Reden zu beschäftigen; so kann man einerseits versuchen, sich dagegen zu wappnen, durch eine brilliante Rede für eine Sache vereinnahmt zu werden, der man ‘eigentlich’ aus eigenen Wertvorstellungen heraus widersprechen möchte, und andererseits kann man selbst ein besserer Redner oder eine bessere Rednerin werden und so die eigenen Ziele vielleicht etwas erfolgreicher verfolgen und durchsetzen.
Die Schule der großen Reden ist die Literatur. Hier haben Autorinnen und Autoren Situationen geschaffen, in denen ihre Figuren beispielhafte Reden an ihre Zuhörerschaft richten; Reden, die sicherlich so perfekt geplant und geschrieben und poliert sind wie wenige im echten Leben.
In unserer Projektwoche wollen wir uns mit großen Reden der Weltliteratur auseinandersetzen. Das heißt, ihr lernt welche kennen (sehr gerne kann das auch schon vorbereitend passieren) und tauscht euch zu Beginn über die Texte und ihre Wirkung aus. Spätestens am Dienstag entscheidet ihr euch für jeweils eine Rede, die ihr dann exemplarisch erarbeitet und zum Vortrag bringt.
Dieser Vortrag ist wichtig, denn eine Rede muss ja gehalten werden, um zu wirken (sonst wäre sie ein Brief oder sowas), und gerade auch die perfomativen Eigenschaften wie Stimmlage, Betonungen, Lautstärke, Mimik und Gestik sind wichtige Bestandteile des Erfolgsrezepts. Wir suchen passende Orte im Schulhaus bzw. -gelände aus, auf die ihr euren Redevortrag abstimmt, und ihr studiert dann eine Aufführung eurer Rede an diesen bestimmten Orten ein. Ob ihr das alleine macht und die anderen in der Projektgruppe nach Bedarf um Kommentare und Hilfen bittet, oder ob ihr euch in kleinen Teams zusammenschließt, in denen Aufgaben wie “Sprecher/in”, Regisseur/in, Musiker/in etc… verteilt werden, soll nach tatsächlicher Lust und tatsächlichem Bedarf entschieden werden.
Im Idealfall schaffen wir es, diese Redenvorträge auch filmisch festzuhalten und auf die ein oder andere Weise nach außen zu präsentieren.
Ich denke, eine Mindestmenge von 5 Schüler/innen wäre schön, dann hat man auch Menschen, mit denen man sich austauschen kann; als Obergrenze würde ich 15 andenken, damit ich selbst als Begleiter auch noch ausreichend Zeit für die einzelnen Gruppen haben kann.
Grundsätzlich glaube ich, dass diese doch intensive Auseinandersetzung mit Literatur ab der 10. Klasse mit genügend Souveränität stattfinden kann, dass sie auch lustvoll erlebt werden kann. Solltet ihr aber auch in “kleineren Klassen” Interesse an diesem Projekt haben, weil ihr vielleicht begeisterte Mitglieder in der Theater-AG seid, so bitte ich euch um ein kurzes persönliches Gespräch, bevor ihr dieses Projekt wählt.
Ich freue mich darauf, mit euch gemeinsam auch einen wunderbaren Aspekt des Theaters und der Literatur erleben zu dürfen. Ich freue mich auf Hamlets “Sein oder Nichtsein”, auf Mark Antonys “Friends, Romans, countrymen” (das auch gerne im Englischen Original einstudiert werden darf….), auf Shylocks Überlegungen, ob nicht ein Jude auch Augen und Ohren hat; oder darauf, dass jemand auf die Idee kommt, Handkes Publikumsbeschimpfung mal wieder zur Hand zu nehmen; oder auf Monologe, mit denen ein gewisser geheimer Rat seinen Doktor Faust ins deutsche Gedächtnis eingebrannt hat…
Es wird schön!
Bis dahin herzliche Grüße
Peter Gutmann

Die Sammlung der Reden, die ich vorstellen möchte:

  • Hath not a Jew eyes? (Shakespeare MoV, III.1 57ff)
  • anders als viele andere Reden ist diese hier in einen Dialog eingebettet und hat, darin einer Opernarie ähnlich, ein Vorspiel, eine Einleitung und beginnt “eigentlich” bereits in 43 (There I have another bad match!)
  • Volltexte: Gutenberg Englisch Deutsch, Folger
  • St. Crispian’s day speech (Shakespeare, HV IV.3, 23ff)
  • Once more unto the breach (Shakespeare, HV III.1 1ff)
  • Wie könnte eine Liste der größten Reden der Weltliteratur auch nur annähernd vollständig sein ohne diese beiden, die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein auch in der Realität ihre Schlagkraft bewiesen haben. Auch wenn Oliviers Henry V für völlig andere Sehgewohnheiten gedacht war, so ist wohl leicht nachzuvollziehen, wie sehr Henrys Ansprachen die Englischen Truppen in der Wirklichkeit des 2. Weltkriegs aufbauen konnten (auch wenn der Feind nicht “Frankreich” war).
  • Volltexte: Gutenberg Englisch Deutsch, Folger
  • To be or not to be. (Shakespeare, Ham III.1 64ff)
  • Man kann/darf und vielleicht muss man auch darüber diskutieren, ob das eine Rede ist. Für Kommentare und Diskussionen bin ich hier offen, da Hamlet hier direkt das Publikum anspricht, schließe ich den Text mit ein.
  • Volltexte: Gutenberg Englisch Deutsch, Folger
  • Ringparabel (Lessing, NdW, III.7)
  • Ähnlich der Überlegung zu “To be or not to be” könnte man sich hier trefflich streiten, doch richtet sich der Text sicher nicht “nur” an Saladdin, und er hat ein derart großes Eigenleben erlangt, dass getrost davon ausgegangen werden kann, dass das jeweilige Publikum – Inszenierungsgags hin, Inszenierungskniff her – diese Parabel stets nicht von außen betrachtet, sondern direkt aufgenommen hat.
  • Volltexte: Gutenberg, Gutenberg (US, Deutscher Text)
  • Robespierre (Büchner, Danton I.3)
  • St Just (Büchner, Danton II.7)
  • Danton (Büchner, Danton III.9)
  • Wenn es ein deutschsprachiges literarisches Werk gibt, das sich mit der (politischen) Rede als solcher grundlegend auseinandersetzt, dann ist es Büchners Stück Dantons Tod. Gerade das Spannungsfeld zwischen Originalzitaten und “erfundenen” Texten ist für unser Projekt besonders vielversprechend, weil sich hier grausame Realität und sichere Literatur so eng begegnen. Ich würde mir wünschen, dass es eine Gruppe von Schüler/innen gibt, die diese drei Reden als Tryptichon präsentieren.
  • Volltexte: Gutenberg, Gutenberg (US, Deutscher Text)
  • Chicagoer und Ciceroer! (Brecht, Arturo Ui, 15)
  • In Verbindung mit der dortigen Version der Antoniusrede (Brecht, Arturo Ui, 6)
  • Brecht nimmt hier für seine Hitler-Figur Bezug auf beide Reden, die in Shakespeares Julius Caesar nach Cäsars Tod an die Römer gehalten werden. Diese Reden könnten durchaus auch im Schulprojekt in einen Dialog treten.
  • Volltexte kann ich nicht verlinken, da Brechts Texte noch geschützt sind. Wir arbeiten mit Büchern.
  • Atticus Fitchs Schlussrede vor Gericht (Lee, Mockingbird)
  • Eine der berühmtesten Verteidigungsreden der Literaturgeschichte.
  • Obschon ich mir nicht sicher bin, ob Genius.com die Rechte am Text wirklich hat, möchte ich hier auf eine für Schülerinnen und Schüler annotierte Fassung des englischen Texts verlinken. Sollte es sich um eine pirated copy handeln, lösche ich den Link natürlich umgehend: https://genius.com/Harper-lee-to-kill-a-mockingbird-atticus-finchs-closing-speech-annotated
  • Publikumsbeschimpfung (Handke)
  • Ist das eine Rede?
    Vier Sprecher beschimpfen ihr Publikum…. Mich würde sehr interessieren, was ein junger Mensch im Jahr 2022 mit diesem Stück anfängt, wenn sein Startpunkt der ist, dass hier eine “Rede” gehalten wird, dass es also Sprecher und Angesprochene gibt, und dass es einen Informationsfluss von “oben” nach “unten” — von der Bühne ins Publikum gibt.
  • Natürlich arbeiten wir mit einem Buch, aber es gibt ein paar Aufnahmen auf Youtube, die ich hier sehr gerne verlinke: Vollständig (Peymann, Frankfurt 1966), Vollständig (Hoser, Berlin 2016), Teaser (Laberenz, Berlin 2018)

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